Rechnet sich Menschlichkeit?
Rechnet sich Menschlichkeit?
Ein Auszug aus dem Bestseller Fokus! Provokative Ideen für Menschen, die was erreichen wollen von Hermann Scherer.
Ich befürchte, ich gestehe, ich gebe zu: Verloren habe ich sie. Fast ein halbes Leben lang hatte ich sie. Sie gehörte zu mir wie ein Bügelbrett zum Bügeleisen. Nein, das Bild ist zu klein. Ich meine, sie gehörte zu mir wie die Buchstaben zur Buchstabensuppe, wie ein Flügel zum Vogel, wie das Wasser zum Meer. Und dann … dann überschlugen sich die Ereignisse, eins kam zum anderen, vieles kam zusammen. Vor allem Schlechtes. Die Macht des Faktischen trieb sie mir aus, und irgendwann, ganz unbeachtet, war sie weg. Sie war weg wie eine Katze, um die sich keiner kümmert und die sich darum irgendwann kurzerhand neuen familiären Anschluss im Nachbarviertel sucht.
Wenn ich es heute betrachte: Es gab genügend frühe Anzeichen dafür, dass sie bei mir schrumpfte und schwand. Beispielsweise hätte ich hellhörig werden können, als mir private Termine mit Freunden immer mehr Last als Freude bedeuteten. Wenn man sich über Freunde nicht mehr freut, dann beginnt wohl eine Form von Erosion.
Alles, was mich damals von meinem Fokus auf meine Ziele ablenkte, empfand ich nicht etwa als Entspannung, sondern ich ärgerte mich über die Zerstreuung, den Zeitund Energieverlust. Wann immer ich nicht mit unzähmbarer Leidenschaft an meiner Vision, an meinen Projekten arbeiten durfte, sondern mich mit gesellschaftlichen, familiären oder sonstwie »moralischen« oder »sozialen« Verpflichtungen herumschlagen musste, wurde ich ungeduldig, langweilte mich und wurde ungemütlich. Ich wollte mich konzentrieren, wollte selbstvergessen, ja weltvergessen an »meinem Ding« arbeiten und dabei gefälligst nicht gestört werden. Dazu kamen die Schulden, die ich von meinen Eltern übernahm. Und alles wurde noch viel drängender, wichtiger, kompromissloser. Ich begann, in anderen Menschen nur noch den Nutzen zu sehen, der in ihnen für mich und meine Ziele stecken könnte. Ich fing an, Menschen als Ressourcen für meine Zwecke auszubeuten wie ein Ölfeld unter der Wüste Arabiens. Und ich empfand noch nicht einmal Einsamkeit. Spätestens da war sie weg. Die Menschlichkeit.
Betteln für Profis
Ich habe das Gefühl, wir Menschen rutschen im Moment mehr zufällig als gewollt in eine neue Ära der Menschlichkeit hinein. Vielleicht liegt es daran, dass seit kurzem die Mehrheit der Menschen nicht mehr ums nackte Überleben kämpfen muss. Noch vor 50 Jahren lebten zwei Drittel der Menschen, nämlich alle, die nicht in den Industrieländern lebten, in bitterer Armut von weniger als einem Dollar pro Tag.
Heute – und das ist glücklicherweise ein Segen des als unmenschlich verschrienen Kapitalismus beziehungsweise der freien Marktwirtschaft –, heute lebt nur noch etwa ein Siebtel der Menschheit von weniger als einem Dollar pro Tag, und das obwohl es seit damals vier Milliarden Menschen mehr gibt auf der Welt. Die meisten Menschen sind der Armutsfalle entronnen, haben Arbeit und können ihre Familie mit durchschnittlich zwei Kindern selbst ernähren. Nur noch das unterste Siebtel ist auf Hilfe angewiesen und deren Familien haben im Durchschnitt fünf Kinder. Wir sind also gerade auf dem besten Weg, die Armut und gleichzeitig die Überbevölkerung in den Griff zu bekommen. Und das gibt uns den Raum, um erstmals in der Geschichte der Menschheit die Sinnfrage zu stellen. Was der Mensch für die Menschen und zur Menschheit beiträgt, was den Menschen menschlich macht – diese Frage ist neu. Wir leben in der Dekade der Menschlichkeit. Und nun beschäftigen wir uns damit, zu überlegen, was das denn überhaupt ist und wie das denn geht, das Menschlichsein. Ja, wie geht denn das?
Ein ernstzunehmender Gedanke dabei ist ein Satz, den Jesus von Nazareth gesagt hat. Er wäre fast verloren gegangen, denn in den vier Evangelien ist er nicht enthalten. Dafür hat ihn der Apostel Paulus aufgeschnappt und in einer seiner Predigten zitiert. Er wurde protokolliert und fand Eingang in die Apostelgeschichte, die bis heute gelesen wird. Luther übersetzte ihn dann so: Geben ist seliger denn Nehmen. Das ist sehr schön formuliert. In heutiger Sprache würde er etwa so lauten: Leuten was zu geben, ist viel cooler als nur was zu bekommen. Oder noch besser: Wahre Hilfe ist es nicht, den Reichtum zu teilen, sondern den Menschen ihren eigenen Reichtum zu zeigen.
Doch die Menschlichkeit wird ausgetrickst. Zum Beispiel wenn Bettlerinnen mit einem Baby im Arm und der ausgestreckten leeren Hand auf Sie zukommen und Sie flehentlich ansehen – und Sie später merken, dass das Baby gar kein Baby, sondern eine Puppe war. Ja, das habe ich schon erlebt. Da wird die Menschlichkeit ausgenutzt wie eine Schwäche. Aber ist Menschlichkeit wirklich eine Schwäche? Macht sie uns verwundbar? Wären wir vielleicht viel menschlicher, wenn wir nicht laufend ausgetrickst werden würden? Man traut sich ja häufig kaum noch bei einem Unfall am Straßenrand zu helfen, aus Angst, dass man etwas über die Rübe gezogen bekommt.
Der zufällige Akt der Güte
Manchmal braucht es eine Umfrage oder eine Studie, um zu verstehen, was passiert und verblüffende Zusammenhänge zu realisieren. Es gibt eine berühmte Studie von Matt Weinstein und Dale Larsen über den so genannten »Random Act of Kindness«, also den zufälligen Akt der Güte. Sie belegt, dass die spontane Hilfsbereitschaft eines Menschen zunimmt, wenn er kurz vor der Situation, in der seine Hilfe benötigt wird, ein Glückserlebnis hatte. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mensch einem anderen hilft, ist viermal so hoch, wenn ihm kurz vorher etwas Gutes widerfahren ist! Seitdem lassen die Autoren der Studie übrigens überall, wo sie gerade sind, beim Joggen oder Kaffeetrinken oder wo auch immer, hier und da eine kleine Münze fallen, auf dass sie jemand finde und sich darüber freue.
Und: Um zu ihrem Institut zu gelangen, mussten Weinstein und Larsen durch eine Mautstelle fahren. An dieser Stelle machten sie es sich zur Gewohnheit, für den nachfolgenden Wagen gleich mit zu bezahlen. Das Spannende dabei ist nun: Diese Person, die ein kleines, unverhofftes, liebenswürdiges Geschenk von einer ihr völlig unbekannten Person erhält, besitzt laut dem Ergebnis der Studie ein sehr großes Potenzial, die kleine Geste weiterzugeben, also zum Dank gleich der nächsten hinter ihr fahrenden Person die Maut zu bezahlen. Und dann das gleiche wieder, eine Kette von Freundlichkeit, von der niemand einen Nachteil aber jeder einen Nutzen hat. Stellen Sie sich vor, diese Geste würde sich ewig weiter fortpflanzen und sich wie eine Welle verbreitern, die eines Tages zufällig wieder beim Auslöser ankommt … was für eine schöne Vorstellung!
Das Großartige dabei: Sie können jederzeit eine solche Welle auslösen. Möglichst bei jemandem, den Sie nicht kennen: Eine Blume schenken, ein Buch oder eine CD, einen Besuch machen, einen Einkauf erledigen oder einfach nur freundlich Guten Tag sagen und ein Lächeln verschenken. Die einzige Bedingung: Der Beschenkte darf sich nicht beim Schenker revanchieren, sondern soll das bei einem anderen Menschen tun.
Die tollsten Dinge werden passieren. In der amerikanischen Talkshow von TV-Queen Oprah Winfrey, die eine solche Kette in ihrer Sendung anstieß, wurden wundersame Geschichten erzählt: Die Umsätze von Blumenläden stiegen, einst verfeindete Nachbarn lagen sich in den Armen, die Umsätze der Rechtsanwälte gingen zurück … Wunderbar, dass das funktioniert. Bitte verstehen Sie das gerne als Anregung! Es ist so einfach!
Wer es schafft, jeder Sekunde, jedem aktuellen Gegenüber, jeder Sache und jeder Tätigkeit mit ein wenig Aufmerksamkeit und Achtsamkeit entgegenzutreten, der hat seinen ganz persönlichen Menschlichkeitsindex entwickelt. Der ist menschlich und muss nicht mehr den Eindruck erwecken, menschlich zu sein.
Sei wie Jesus Christus!
Es gibt wirklich allen Grund, uns Menschen zu lieben, finde ich. Bei allen Abgründen – ein Wunder sind wir dennoch. Überlegen Sie mal: Die Voraussetzung dafür, dass es Sie und mich überhaupt gibt, ist die aufwändige, aber letztlich erfolgreiche Jagd von 500 Millionen männlichen Spermien auf ein weibliches Ei, das nur von einem einzigen Spermium befruchtet werden kann. Denn anschließend macht das Ei sofort alle Schotten dicht und konzentriert sich auf das Geschäft des Teilens. In Sekundenbruchteilen wird in diesem magischen Moment der genetische Code eines neuen Menschen festgeschrieben. In wenigen Tagen bilden sich die ersten Strukturen des Körpers aus. Nach neun Wochen fängt das Herz an zu schlagen. Was nach der Geburt im Wesentlichen aus etwas Fett, Protein, Zucker und 75 Prozent Wasser besteht, ist das komplexeste Lebewesen des Planeten Erde. Babys tauchen, ohne Wasser zu schlucken. Sieben verschiedene Krabbel techniken bringen den neuen Menschen um zwei Kilometer pro Stunde weiter. Winzige Härchen im Ohr steuern den Gleichgewichtssinn, eine wichtige Vorgabe für die Sensation der ersten Jahre: die ersten aufrechten Schritte.
Doch schon wartet die nächste riesige Aufgabe: das Sprechen. Der Kopf ist wärmer als der Rest des Körpers. Der Grund: Hier wird einfach mehr Energie verbraucht. Hier sitzt das Supergehirn, das den Menschen in seiner Blüte allen anderen Lebewesen intellektuell überlegen macht. 100 Milliarden Neuronen feuern hier ständig elektrische Impulse, die sich mit einer ausgeklügelten Chemie die Arbeit teilen. Beide Steuerungssysteme, das Nerven- und das Hormonsystem, regieren ein wahres Universum, das speichert, steuert und sich auch noch ständig selbst hinterfragt, ganz zu schweigen von seinem unermüdlichen Forscherdrang, der auch vor dem Gehirn selbst nicht Halt macht.
Natürlich sehen wir nicht durch unsere Augen, nein, die Bilder entstehen erst so richtig im Gehirn. Mit Hören, Fühlen, Riechen ist es nicht anders. Jede Stunde bildet unser Körper eine Million neue Zellen und unser Gehirn hat fantastische Strategien, um unsere Körpertemperatur auf etwa 37 Grad stabil zu halten. Ein durchschnittlicher Mensch geht täglich fünf Kilometer. In einer Woche sind das 35. In einem Monat läuft er 140 Kilometer. In einem Jahr macht das dann 1550 Kilometer und in einem ganzen Leben circa eine Million Kilometer – also etwa 25 Mal rund um die Erde. Ich finde, wir könnten uns alleine schon für die Anzahl an durchgelatschten Schuhen lieben. Was wir alles können! Wir sind großartig und leisten im Laufe unseres Lebens Unglaubliches. Es gibt allen Grund, gütig und freundlich zu uns selbst zu sein. Ich bin dafür ein leuchtendes Beispiel – nur leider ein ziemliches Negativbeispiel. Ich kann nämlich unheimlich fies zu mir sein. Ich kann mich ausbeuten und mich berauben, weil ich mir absolut alles abverlange. Ich kann zu mir selbst ein Schwein sein und alles andere als menschlich.
Ich sage es Ihnen: Sie brauchen gar nichts machen, um geliebt zu werden. Es genügt, wenn Sie selbstvergessen sind. Denn nichts bewirkt eine solche Anziehungskraft wie Selbstvergessenheit. Ich meine diese Situationen, wenn Ihr Gehirn das Ich ausblendet und Sie ganz in einer Tätigkeit aufgehen und nichts anderes mehr mitkriegen, beim Bücherlesen zum Beispiel, beim Sport, bei einem guten Film oder beim Meditieren. Der Zustand, bei dem man glaubt, den Überblick zu verlieren. Es ist manchmal besser, den Überblick verloren zu haben, als ihn nie gehabt zu haben. Diesen Zustand findet man oft bei Kindern. Meinem Sohn ist abends beim Essen sogar schon der Kopf in den Teller gefallen, und zwar bevor der Teller leergegessen war. Und meine Tochter ist schon mal im Bett mit halbem Kopfstand eingeschlafen. Das ist Selbstvergessenheit. Ich finde auch Arbeit großartig, denn beim Arbeiten kann man doch ganz wunderbar selbstvergessen sein. Arbeit ist ein Spielplatz für Erwachsene!
Der Anthropologe Helmuth Plessner bezeichnet diese Fähigkeit, ganz bei einem anderen Menschen oder bei einer Tätigkeit zu sein, als Exzentrität. Damit meint er einen Zustand jenseits des Zentrums, also eine Form von Außer-sich-sein. Indem wir unser Ich verlassen und aus uns heraustreten, können wir uns in einen anderen Menschen hineinversetzen. Sogar in uns selbst: Wir können aus uns heraustreten und uns selbst beobachten und uns selbst reflektieren.
Diese Fähigkeit hat nur die Spezies Mensch. Die Frage ist nur, wie sehr wir sie nutzen. Ich bin mit Plessner einer Meinung, dass das Überleben der Menschheit auf diesem Planeten deutlich davon abhängt, ob wir in der Lage sind, nicht nur permanent in einem ego-zentrischen Zustand zu leben, in dem wir um uns selbst, um unsere Bedürfnisse, Wünsche und unseren Willen kreisen, sondern ob wir auch häufig genug in einem ex-zentrischen Zustand leben.
Dann erst interessieren wir uns für andere Menschen. Dann erst können wir sie verstehen. Dann erst suchen wir Lösungen, die nicht nur uns selbst, sondern auch gleichzeitig anderen Menschen zupasskommen. Dann erst können wir mitdenken und mitfühlen. Dann erst sind wir menschlich.
Wenn es ein gutes Beispiel dafür braucht, versuchen Sie es doch einfach mal mit Jesus Christus. Was Selbstvergessenheit beziehungsweise Exzentrität angeht, kann ihm bis heute niemand das Wasser reichen. Sein Leben zu geben für die Menschen … alle Achtung!
Profit mit Non-Profit
Ich betreue zwei geniale Steuerberater, Stephan Brockhoff und Klaus Panreck, die gemeinsam ein Buch schreiben, das einen sensationellen Titel hat, der alles sagt und die Antwort auf eine aktuelle Fragestellung gibt: Menschlichkeit rechnet sich. Ich finde diese Aussage klug, insbesondere, wenn die Autoren Steuerberater sind. Und natürlich: Sie rechnet sich! Ich gebe Ihnen gerne auch ein Beispiel dafür.
Ein gutes Beispiel ist der Hotelunternehmer Bodo Janssen. In seiner Firma Upstalboom ging es früher zu wie in jedem konventionellen Unternehmen. Das heißt: Die Prinzipien der klassischen Betriebswirtschaftslehre standen im Vordergrund. Der Fokus lag darauf, Gewinne zu maximieren. Also wurde gemanagt statt geführt, die Zahlen standen im Vordergrund, nicht die Menschen.
Doch eines Tages führte Janssen eine Mitarbeiterbefragung durch. Das Ergebnis machte ihn betroffen und tat weh. Sehr weh. Ganz offensichtlich ging es den Mitarbeitern bei ihm nicht gut. Er beschloss, sein Unternehmen zu ändern. Und dazu fing er bei sich selbst an. Eineinhalb Jahre lang ging er regelmäßig in ein Benediktinerkloster, um für sich neue Sichtweisen zu verstehen.
Sein Motto lautet seitdem: Wertschöpfung durch Wertschätzung. Und das bedeutet, dass Janssen seinen Mitarbeitern ermöglicht, das zu leben, was ihnen als Mensch wichtig ist, was ihnen Freude bereitet und wofür sie ein Talent haben. Führung – also seine primäre Aufgabe – sieht er als Dienstleistung, nicht als Privileg.
Und seitdem die Zahlen nicht mehr im Mittelpunkt stehen, sind sie viel besser geworden: Mitarbeiterzufriedenheit plus 80 Prozent, Senkung der Krankheitsquote von acht Prozent auf unter drei Prozent, Anzahl der Bewerbungen plus 500 Prozent, Steigerung der Gästezufriedenheit auf 98 Prozent, Verdopplung der Umsätze innerhalb von drei Jahren bei signifikanter Steigerung der Produktivität. Es funktioniert also.
Es gibt also eine Sache, für die Sie schwer Ausreden finden werden, wenn Sie am Ende Ihres Lebens einen bedauernden Blick zurückwerfen. Wenn Sie dann sagen werden, dass Sie es in der kurzen Zeitspanne Ihres Lebens vor dem Tod versäumt haben, menschlich zu sein, dann werden Sie das bereuen.
Also vergessen Sie den Faktor Menschlichkeit nicht, wenn Sie antreten, das zu tun, wofür Sie angetreten sind. Wir sind die einzige Spezies, die es schafft, gegen sich selbst destruktiv zu handeln. Doch es gibt nach gründlichem Nachdenken für mich keinen vernünftigen Grund, unmenschlich zu sein. Nicht mal aus Langeweile oder Unachtsamkeit. Und schon gar nicht aus Profitgier.
Lassen Sie uns heute menschlich sein, um Eigeninteressen zu wahren. Das ist immerhin ein Schritt. Und vielleicht lernen wir dadurch, so fokussiert, menschlich und selbstvergessen zu sein wie Jesus von Nazareth.