Erfolg beginnt im Kopf

Erfolg beginnt im Kopf

Thomas Baschab über die Kraft der Imagination

Roger Bannister war ein bemerkenswerter Mann. Statt mit einer Frau ging er abends mit einem Wecker ins Bett. Nicht, um die Weckzeit für den nächsten Morgen einzustellen, sondern um sich vier endlos lange Minuten immer wieder eine Art inneren Film anzuschauen. Das heißt, vier Minuten waren es gerade nicht, sondern ein paar entscheidende Sekundenbruchteile weniger: exakt drei Minuten, neunundfünfzig Sekunden und vier Zehntel. Dies tat er Abend für Abend. Nur so, glaubte er, konnte er ans Ziel seiner Träume gelangen.

Die Schallmauer

In den Fünfzigerjahren gab es im Sport eine Schallmauer, die weltweit als unüberwindbar galt: Kein Mensch, so die allgemeine Annahme, sei imstande, die Meile in einer Zeit unter vier Minuten zu laufen. Diese Meinung stand so fest wie eine Mauer. Und als würde es noch nicht reichen, dass alle Mittelstreckenläufer der Welt vergeblich gegen die »Traummeile« anrannten, machten sich zahlreiche Wissenschaftler daran, zu beweisen, warum es physiologisch unmöglich sei, in weniger als vier Minuten eine Meile auf zwei Beinen zurückzulegen. Die Sauerstoffzufuhr sei zu gering, außerdem erfolge der Blutaustausch viel zu langsam. Und so weiter und so fort. Die vier Minuten markierten also eine klassische Ideengrenze: Die Erfahrungstatsache, dass noch kein Mensch die Meile in weniger als vier Minuten gelaufen war, hatte sich – in den Köpfen der Leute – in ein Naturgesetz verwandelt. Bis Roger Bannister eines Tages damit anfing, den Wecker neben sich auf den Nachttisch zu stellen.

Der Durchbruch

Was trieb Roger Bannister Abend für Abend mit seinem Wecker im Bett? Er trainierte. Nicht mit seinen Beinen – das tat er tagsüber reichlich –, sondern in seinem Kopf. Während der Wecker tickte, stellte er sich vor, wie er die Meile lief, vom Start bis zum Ziel, Meter für Meter, Sekunde für Sekunde, bis zum beifallumtosten Finish, und zwar immer genau in drei Minuten, neunundfünfzig Sekunden und vier Zehnteln. Weil er – aller Welt zum Trotz – es durchaus für möglich hielt, dass man, dass ER die Meile in dieser Zeit schaffen konnte. Und dann, am 6. Mai 1954, wurde sein Traum Wirklichkeit. Roger Bannister lief als erster Mensch der Welt die Meile unter vier Minuten. Seine Zeit? 3:59:04!

Kollektive Deblockade

Visionen machen Unmögliches denkbar und Denkbares möglich: Das hatte Roger Bannister sich und der Welt bewiesen. Und auf einmal hatten alle, die ihn vorher für verrückt erklärt hatten, nichts Eiligeres zu tun, als seiner Beweisführung zu folgen. Denn die eigentliche Sensation passierte nach Bannisters Jahrhundertlauf. Dass er die vier Minuten »geknackt« hatte, war eine so großartige Leistung, dass sie im Frühjahr 2000 von der amerikanischen Sportzeitschrift Track & Field News zur größten Einzelleistung der Leichtathletik des letzten Jahrhunderts gekürt wurde – doch das war nicht das Entscheidende. Alle Rekorde fallen irgendwann. Entscheidend war die kollektive De-Blockade, die Bannister mit seinem Rekord auslöste. Noch im selben Jahr 1954 liefen siebenunddreißig andere Läufer die Meile in einer Zeit unter vier Minuten, und in den beiden Folgejahren unterboten mehr als dreihundert Sportler die alte (Alb-)Traummarke. Was bis zu Bannisters Lauf für unmöglich gehalten worden war, war durch sein Beispiel denkbar und darum möglich geworden. Nicht nur für einen begnadeten Ausnahmeathleten, sondern für die ganze Welt der Leichtathletik. Wie ist das zu erklären?

Imagination

Wie so oft bei spannenden Fragen, liegt die Antwort in uns selbst: in der Natur des Menschen. Wären wir Menschen Tiere, müssten wir uns beim lieben Gott selber reklamieren. Tiere sind in einer Hinsicht viel besser ausgestattet als wir: sie haben ein eingebautes Steuerungssystem, bestehend aus ihren Instinkten, das sie bis ans Ende ihrer Tage relativ sicher leitet. Sobald sic auf die Welt kommen, wissen sie, was sie zu tun haben: was sie fressen dürfen und was nicht, ob sie sich besser zu Wasser, zu Lande oder in der Luft fortbewegen, wer ihre natürlichen Freunde, wer ihre natürlichen Feinde sind. Wir Menschen haben dagegen nur sehr wenige Instinkte, und die sind außerdem ziemlich schwach ausgeprägt. Weder wissen wir »von selbst«, was wir zu tun haben, noch reagieren wir auf äußere Reize in immer gleicher Weise. Weil uns aber die Instinkte fehlen, können wir die Not zur Tugend machen und unser Verhalten selber steuern. Zum Beispiel mit der Kraft der Vorstellung: per Imagination.

Beim Frühstück

Der Mensch handelt nicht »von selber«. Dafür ist er mit (mehr oder weniger) Vernunft begabt. Und tut deshalb das, was er sich vorstellt. Dafür braucht er allerdings ein Ziel: Er muss wissen, was er will. Schon morgens beim Frühstück. Vielleicht knurrt mir der Magen, doch kein Instinkt sagt mir, was ich essen soll. Vielmehr habe ich die Qual der Wahl: Soll es ein Müsli oder ein Brötchen sein? Ein Stück Obst oder ein Croissant? Solange ich mich nicht entschieden habe, können meine Hände nichts tun. Erst wenn ich weiß, heute soll es mal wieder ein Schinkenbrötchen sein, treten sie in Aktion. Der Clou dabei: Denken brauche ich nur bis zur Entscheidung. Ist das Ziel programmiert, geht der Rest fast wie von selbst. Bei der geistigen Vorstellung des Ziels – »Schinkenbrötchen « – ruft das Gehirn Informationen aus verschiedenen Schichten des Unterbewusstseins ab, damit der Körper die für die Durchführung notwendigen Funktionen ausüben kann. Das ist leichter getan als gesagt. Obwohl das Schmieren eines Brötchens ein ziemlich komplexer Vorgang ist, denke ich mir so gut wie nichts dabei, sondern tue es einfach. Ich muss nur wissen, dass ich ein Brötchen schmieren möchte. Das genügt, um alle dazu nötigen Handlungen zu strukturieren, vom Öffnen des Kühlschranks bis zum Belegen des Brötchens mit dem Schinken. Ist die Zielvorstellung klar, geschieht der Rest wie von Geisterhand. Genauso geht‘s beim Kaffeetrinken weiter. Wenn ich Kaffee trinken möchte, brauche ich nicht erst groß zu überlegen, was ich dafür alles tun muss. Sobald ich weiß, dass ich einen Schluck Kaffee will, kramt das Gehirn in meinem Unterbewusstsein und findet dort die meisten Handlungsanweisungen gespeichert, die es braucht: dass ich mit der einen Hand die Kaffeekanne hochheben und mit der anderen den Deckel festhalten, dann einschenken, die Kanne abstellen und schließlich die Tasse an die Lippen führen muss, am besten vorsichtig, um mich nicht zu verbrennen, wobei ich natürlich nicht vergessen darf, die Lippen zu öffnen, weil sonst der Kaffee nicht in meinen Mund gelangt.

Navigationssysteme

Ginge es nicht um so eine triviale Sache wie mein Frühstück, wäre hier von mentalem Training die Rede. Denn ohne mein Frühstück zu überschätzen: Ganz ähnlich wie ich mich morgens aufs Brötchenschmieren und Kaffeetrinken programmiere, hat sich Roger Bannister abends auf seinen Jahrhundertlauf programmiert. Er hat sich ein klares Ziel vorgenommen – die Meile in 3:59:04 – und dieses Ziel Abend für Abend bestätigt, durch mentales Training. Während der Wecker tickte, programmierte er mit Hilfe des vorgestellten Ziels sein Unterbewusstsein, das daraufhin die interne Suchmaschine in Gang setzte, um die für den Rekordlauf nötigen Verhaltensweisen zu ermitteln. Ob Roger Bannister oder meine Wenigkeit: Wir praktizieren bei tausend alltäglichen Verrichtungen mentales Training. Indem wir über eine Zielvorstellung Programme abrufen, die dann unser Handeln steuern. Und nichts anderes passiert, wenn ich mit einem Pferd über ein Hindernis springen will. Dann gehen Abertausende von Signalen an meine Muskeln und Glieder – welche gebraucht werden, welche nicht, welche sich dehnen, welche sich zusammenziehen müssen – so dass diese dann ganz von allein wissen, was sie zu tun haben, wenn ich auf den Moment des Sprungs zugaloppiere. Ob beim Brötchenschmieren oder beim Kaffetrinken, beim Mittelstreckenlauf oder beim Sprung über den Oxer – um die nötigen Informationen zur körperlichen Ausführung zu liefern, braucht das Unterbewusstsein in allen Fällen eins: ein klar definiertes Ziel. Darin gleicht das menschliche Steuerungssystem einem Navigationssystem im Auto, das ja auch nur eine Streckenführung entwickeln kann, wenn es weiß, wohin die Reise geht. Ich kann der beste Fahrer der Welt sein, das beste Auto und das beste Navigationssystem haben: ist das Ziel nicht eingegeben, komme ich nirgendwo hin. Ist das Ziel aber gespeichert, findet das System in der Vielzahl von Autobahnen, Straßen und Wegen die optimale Verbindung; ja, es liefert mir sogar Alternativen, wenn ich mich zwischendurch verfahre oder sich mir plötzlich Hindernisse in den Weg stellen.

Erfahrungsschätze

Bleibt die Frage: Woher soll mein Unterbewusstsein wissen, welche Informationen ich gerade zur Durchführung eines bestimmten Handlungsablaufs brauche? Wenn mein Bewusstsein schon nicht Bescheid weiß, ist dann mein Unterbewusstsein mit dieser Aufgabe nicht erst recht überfordert? Keineswegs. Auf mein Bewusstsein bilde ich mir zwar jede Menge ein – vielleicht sogar zu Recht – doch der reichere Teil meiner Persönlichkeit ist mein Unterbewusstsein. In seinem Dunkel ruht der ganze Reichtum meines Lebens, liegen sämtliche Erfahrungen gespeichert, die ich auf Erden seit meiner Geburt gemacht habe und warten auf ihren Abruf. So wie im Navigationssystem meines Autos unzählige Landkarten Deutschlands, Europas und der Welt eingespeist sind, auf die der Autopilot im Moment meiner Anfrage zugreifen kann. Darum kann mir mein Unterbewusstsein in fast allen Lebenslagen die nötigen Informationen beschaffen. Ich muss ihm nur sagen, wofür: welches Ziel ich mit seiner Hilfe erreichen will.